Prof. Dr.-Ing. Max Lemme

Experte im Bereich Nanotechnologie, Inhaber des Lehrstuhls für Elektronische Bauelemente an der RWTH Aachen

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»Wir wollen die Art, wie Computerchips arbeiten, neu denken, und lassen uns dabei von natürlichen Prozessen im Gehirn inspirieren.«

Prof. Dr.-Ing. Max Lemme forscht an nanoskaligen Transistoren, 2D-Materialien und Perowskiten für Anwendungen in den Bereichen Kommunikation, Sensorik und neuromorphes Computing. Neuromorphes Computing ist Gegenstand in dem Zukunftscluster NeuroSys, den er aktuell koordiniert. NeuroSys steht für »Neuromorphe Hardware für autonome Systeme der künstlichen Intelligenz« und ist eines von sieben Zukunftsclustern, die aus über 130 Einreichungen in der ersten Wettbewerbsrunde der Zukunftscluster-Initiative (Clusters4Future) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zur Förderung ausgewählt wurden. Die Vision des Zukunftsclusters NeuroSys ist es, neuartige Hardware für Anwendungen in der Künstlichen Intelligenz (KI) zu entwickeln und die Region Aachen als einen weltweit führenden Standort in diesem Feld zu etablieren. Im Interview mit KI.NRW hat er über das Projekt gesporchen.

Portrait Max Lemme
Prof. Dr.-Ing. Max Lemme forscht im Zukunftscluster NeuroSys zu neuromorphen Computing, © JRF e.V

Prof. Lemme, wofür setzt sich der Zukunftscluster NeuroSys ein?

Der NeuroSys Zukunftscluster hat das langfristige Ziel, grundlagenorientierte Forschung in die Anwendung zu führen, so ist es in der Cluster4Future Förderlinie des BMBF ausdrücklich formuliert. Dieser Aufgabe stellen wir uns, indem wir die unterschiedlichen Kompetenzen aus der RWTH Aachen University, wissenschaftlichen Institutionen, Unternehmen und öffentlichen Akteuren aus der Region vereinen. Wir wollen die Art, wie Computerchips arbeiten, neu denken, und lassen uns dabei von natürlichen Prozessen im Gehirn inspirieren. Das ist natürlich ein langfristiges Ziel, wozu der Cluster uns eine gewisse Freiheit gibt.

Wir haben für diese herausfordernde Aufgabe die komplette Wertschöpfungskette in der Region abgedeckt, von der Materialforschung über Chipentwurf, Neurowissenschaften und KI-Anwendungen bis zu ethischen, soziologischen und betriebswirtschaftlichen Fragestellungen. Damit haben wir unterschiedliche Schnittstellen mit den regionalen Unternehmen entlang der Kette geschaffen, und können trotz der langen Zeitschienen in der Forschung auch kurzfristig Transfer und Innovation realisieren. Wir sehen uns dabei auch als Teil des Transformationsprozesses im Rheinischen Revier.

Was macht Neuromorphe Hardware aus und wie unterscheidet sie sich von herkömmlicher Hardware?

Neuromorphic Computing zeichnet sich dadurch aus, dass Rechnerarchitektur und Rechenvorgänge inspiriert sind von der Struktur und Funktionsweise des Gehirns. Ein neuromorpher Computer wird also künstliche Neuronen zur Durchführung von Berechnungen verwenden. Inzwischen wurde der Begriff erweitert und umfasst auch analoge und digitale Systeme (und deren Kombination), die Modelle neuronaler Systeme implementieren.

Man kann sich jetzt natürlich fragen: Warum sollten wir die etablierte Methodik verlassen? Das liegt daran, dass Anwendungen des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz äußerst Datenintensiv sind. Bei herkömmlichen Rechnern, die in der sogenannten Von-Neumann-Architektur entworfen werden, sind aber die Recheneinheiten und die Speicher voneinander getrennt, sodass die riesigen Datenmengen ständig hin- und hertransportiert werden müssen. Das verbraucht ungeheuer viel Energie, was durch die explodierende Anzahl von Nutzern dieser Anwendungen verstärkt wird. Die Semiconductor Research Corporation, eine Vereinigung globaler Halbleiterhersteller und Forschungsinstitute, sagt voraus, dass wir circa 2045 die gesamte auf dem Planeten erzeugte Energie für Computing ausgeben würden, wenn sich an der Computerhardware nichts ändert.

Stichwort »Energieeffizienz«: Können Sie uns ein Beispiel geben, wo Neuromorphe Hardware KI-Anwendungen auf ein neues Level bringen kann?

Es gibt, neben dem oben beschriebenen fundamentalen Problem, eine große Zahl von Anwendungsszenarien. Schon heute werden verschiedene »Hardwarebeschleuniger« eingesetzt, zum Beispiel in Smartphones, die neue Wege im Entwurf gehen. Ein Beispiel für die Zukunft ist aber das Autonome Fahren. Plakativ gesprochen bräuchten Fahrzeuge ähnlich viel Energie zum ›Denken‹ wie zum Fahren, was die Reichweitenthematik erschwert. Cloud-Lösungen wiederum sind in Echtzeit noch nicht realisierbar und dazu ein Risiko wegen der Netzzuverlässigkeit. Neurmorphe Chips könnten dies lösen. Ein zweites Beispiel ist die Patientenversorgung, zum Beispiel am Krankenhausbett. Hier können KI-Systeme die Medizin massiv unterstützen, aber es werden höchst vertrauliche Daten erfasst, die nicht in einer herkömmlichen Cloud verarbeitet werden dürfen. Es geht aber weiter über die vernetzte Industrie, Smart Home und Smart Cities: hier werden Milliarden von Sensoren Daten erfassen und mit Hilfe der KI zu produktiveren, sichereren, umweltfreundlicheren Abläufen führen. Aber die neue Hardware muss diese unglaublichen Datenmengen auch effizient verarbeiten.

Welche gesellschaftlichen Herausforderungen sehen Sie im Umgang mit KI und wie kann Neuromorphe Software helfen mit diesen Herausforderungen fertig zu werden?

Regional ist natürlich der Braunkohleausstieg und der damit notwendige Strukturwandel im Rheinischen Revier eine Herausforderung. Wir brauchen regional neue Technologien, die zukunftsfähige Arbeitsplätze mit sich bringen. Das ist ein klar definiertes Ziel der Clusterakteure, insbesondere der Unternehmen und Neugründungen, von denen wir erfreulicherweise eine ganze Reihe bereits an Bord haben. Aber natürlich denken wir auch im Europäischen Kontext an die technologische Souveränität in einer unsicheren geopolitischen Lage. KI wird meines Erachtens alle Lebensbereiche maßgeblich beeinflussen, das ist auch ein wesentliches Ergebnis einer Enquete Kommission des Bundestags zum Thema. Daher müssen wir uns die Frage stellen: wie schaffen wir es, eine KI zu schaffen die den Bürger*innen nutzt, Europa unabhängiger macht, und die Entscheidungsvorlagen generiert, die unseren Europäischen Werten entsprechen? Das Human Technology Center der RWTH Aachen beschäftigt sich mit diesen ethischen und soziologischen Aspekten unserer Forschung und ist ein elementarer Bestandteil des Clusters.

Wie sieht die Arbeit in dem Cluster aus?

Hier komme ich auf die Wertschöpfungskette zurück. Das übergeordnete Ziel, energieeffiziente Hardware für KI-Anwendungen zu schaffen, ist sehr langfristig angelegt. Dazu haben wir Akteure aus allen Teilen der Wertschöpfung, die ein Co-Design von Hardware-Software und Algorithmen anstreben. Zum Beispiel erforschen wir ganz neue Materialien, aber wir stellen daraus direkt neue elektronische Bauelemente als Demonstratoren her. Mit diesen Messdaten entwickeln wir Modelle für die Funktionsweise, die wiederum von Kolleg*innen im Chipdesign verwendet werden können, um zukünftige Systeme bereits jetzt zu Simulieren. Für das neuromorphe Rechnen auf der virtuellen Hardware muss dann auch noch die Software neu gedacht werden. Wir versuchen also durch die Kooperation die langen Zeitabläufe abzukürzen.

Aber der Cluster hat auch eine kurzfristigere Dimension: Auf einer Ebene der Wertschöpfungskette entstehen auch laufend Innovationen, und da sind unsere regionalen Industriepartner und auch der überregionale Beirat zur Stelle, aus der Forschung Produkte und letztlich Arbeitsplätze zu machen.

Mit wem arbeiten Sie in dem Cluster zusammen?

Meine eigenen Arbeiten sind im Bereich von elektronischen Bauelementen aus sogenannten zweidimensionalen (2D) Materialien, für deren Entdeckung bereits 2010 der Nobelpreis für Physik an die Professoren Geim und Novoselov verliehen wurde. Im »Aachen Graphene & 2D Materials Center« forschen verschiedene Lehrstühle aus der Elektrotechnik und Physik zusammen mit meinem »Institut AMO« an diesen Materialien, aber auch die Firma Aixtron und das Start-Up Black Semiconductor sind hier sehr aktiv. Aixtron als Hersteller von Prozessanlagen für die Halbleitertechnologie kann somit das Technologieportfolio weiterentwickeln, währen Black Semiconductor die Materialklasse für ihre photonischen Chips einsetzen möchte. Gleichzeitig brauchen wir neue Messverfahren für die Charakterisierung neuer Bauteile, die die Messgerätefirmen »AIXACCT« und »Amotronics« mit uns entwickeln, und die sie in Form ihrer Messgeräte ihren weltweiten Kunden dann anbieten können. Sehr konkrete Ziele also, die von dem langfristigen Forschungsprogramm direkt profitieren. Dazu kommt, dass wir die entsprechenden Expert*innen über Masterarbeiten und Promotionen an der RWTH im Cluster ausbilden können.

Welche Rolle spielt die Vernetzung in der Region für Sie?

Die Vernetzung in der Region ist essenziell. Ich hoffe ich konnte deutlich machen, was für ein langfristiges, aber auch großes Ziel wir vor Augen haben. Daran gemessen ist die Förderung durch den Cluster bei aller Bescheidenheit realistisch betrachtet ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir sprechen hier über einen einstelligen Millionenbetrag pro Jahr, während die Ansiedlung von Halbleiterunternehmen mit Milliardenbeträgen unterstützt werden muss. Wir sind also froh über jede synergetisch wirkende Vernetzung, zum Beispiel mit dem Strukturhilfeprojekt »NEUROTEC 2«, welches vom Forschungszentrum Jülich von Prof. Waser koordiniert wird. Neben Unternehmen sind aber auch vernetzende Akteure wie KI.NRW, die Zukunftsagentur Rheinisches Revier, die AGIT GmbH, die IHK Aachen und die Stadt Aachen in unserem Beirat. Hier ergeben sich immer wieder spannende Gespräche und Ansätze, wie der Cluster weiter ausgebaut werden kann.

Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft. Wohin soll die Reise mit NeuroSys gehen und was sind Ihre Wünsche für die nächsten Jahre?

Wir beantragen gerade die zweite von drei Phasen des Clusters, in der wir den Industrieanteil steigern konnten. Es freut mich besonders, dass darunter mehrere Start-ups sind, die bereits Risikokapital einwerben konnten, was in Summe deutlich die Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung übersteigt. Auch gibt es bereits Gründungen aus dem Cluster heraus, sowie eine Investition von bis zu 100 Millionen Euro in ein F&E Center durch die Firma Aixtron in der Region. Dazu kommt ein wachsendes Interesse an der Thematik von überregionalen großen Unternehmen, die teilweise Partner, teilweise Unterstützer unserer Industriellen Graduiertenschule und teilweise neue Mitglieder im Beirat für Phase 2 werden. So darf es gerne weitergehen. Irgendwann braucht es dann natürlich noch große Halbleiterhersteller, die unsere neuromorphen Chips fertigen. Ich wünsche mir, dass dies auch im Rheinischen Revier passiert. Aber ich bin auch Realist und weiß, dass wir das nur mit Unterstützung der Landes- und Bundesregierungen erreichen können.

Prof. Dr.-Ing. Max Lemme ist führender Experte im Bereich Nanotechnologie, Inhaber des Lehrstuhls für Elektronische Bauelemente an der RWTH Aachen und Geschäftsführer der ebenfalls in Aachen ansässigen AMO GmbH. Nach seiner Promotion in Elektrotechnik an der RWTH im Jahr 2004 erhielt er 2006 den »NanoFutur«-Preis des BMBF. Zwei Jahre später ging er mit einem Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung an die Harvard University, um an Graphen-Bauteilen und -Technologie zu arbeiten. Im Jahr 2010 wurde er Gastprofessor an der Königlichen Technischen Hochschule (KTH) in Schweden. Kurz darauf (2012) erhielt er einen ERC Starting Grant und wurde DFG Heisenberg Professor an der Universität Siegen. Seine Forschungsinteressen umfassen Bauelemente und Materialien für die Elektronik, Optoelektronik und nanoelektromechanische Sensoren.